Warum mehr potenzielle Organspender nicht zwingend mehr tatsächliche Organspenden bewirken

Vor wenigen Tagen wurde das digitale Organspende-Register eingerichtet. Es soll dazu beitragen, die Zahl der Organtransplantationen zu erhöhen. Die Unstatistik des Monats März ist in diesem Zusammenhang die in der FAZ abgedruckte Aussage des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach, „dass wir langfristig die Zahl der Organspenden nur erhöhen können, indem wir die Widerspruchslösung einführen“. Denn das Problem lässt sich längst nicht so einfach lösen.

Zwei neuere wissenschaftliche Studien zeigen, dass das Problem nicht durch eine Widerspruchslösung behoben werden kann. Diese erhöht zwar die Anzahl der potenziellen Organspender, nicht aber die Anzahl der tatsächlichen Spender. Eine in der Fachzeitschrift „kidney International“ veröffentlichte Studie britischer Wissenschaftler verglich 17 OECD-Länder mit Widerspruchslösung mit 18 OECD-Ländern mit Zustimmungsregel. Es gab keinen statistisch bedeutsamen Unterschied im Anteil der tatsächlichen Organspender. Die Länder mit Widerspruchslösung hatten aber weniger Spenden von lebenden Personen.

Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung analysierte fünf Länder, die von einer Zustimmungsregel auf eine Widerspruchsregel umstellten (Argentinien, Chile, Schweden, Uruguay und Wales). Der Wechsel führte zwar zu einem Anstieg der potenziellen Spender, nicht aber zu einem Anstieg der tatsächlichen Organspender. 

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Spanien: Mehr Organspenden durch gezielte strukturelle Änderungen

Auch das Beispiel Spanien zeigt, dass das Problem vielmehr in der Struktur liegt: Spanien hat die beste Infrastruktur für Organ-Transplantation und die höchste Rate von tatsächlichen Spendern. Ursprünglich hatte es eine Widerspruchslösung, die die Organspenden jedoch nicht erhöhte. Erst als die Regierung gezielte strukturelle Änderungen einführte, stiegen die Spenden deutlich an, wie eine Studie zum spanischen Modell der Organspende zeigt. Zu diesen Änderungen gehören hinreichende finanzielle Anreize für Krankenhäuser, damit diese die notwendige Infrastruktur bereitstellen, ein Transplantations-Netzwerk welches den Ablauf effektiv organisiert, Bildungsprogramme und die Schulung von Koordinatoren, die sich Zeit nehmen, um mit den Angehörigen sprechen – denn es ist die Familie, die am Ende meist die Entscheidung trifft.

Dass das Problem nicht schlicht in der Anzahl potenzieller Spender liegt, sondern in der Struktur, sieht man auch an der relativ hohen Anzahl von potenziellen Spenderinnen und Spendern in Deutschland. Häufig wird damit argumentiert, dass viele Menschen eigentlich spenden wollten, aber niemand davon erfährt. So standen im Jahr 2023 knapp 8.400 Menschen auf der Warteliste, aber nur 965 Menschen haben nach ihrem Tod 2.877 Organe gespendet. Die Frage ist nun, ob sich diese Situation deutlich verbessern lässt, indem mehr Menschen einer Organspende zustimmen bzw. diese explizit ablehnen müssen.

Laut einer Befragung im Rahmen der Kampagne „Organspende – Die Entscheidung zählt!“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) haben 44 Prozent der Befragten ihre Entscheidung in Sachen Organspende dokumentiert, darunter 40 Prozent mit einem Organspendeausweis. 44 Prozent der Befragten stimmen der Organspende explizit zu. Nur 8 Prozent lehnten die Organspende ab. 

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Umstellung auf Widerspruchsregelung führt nicht automatisch zu mehr Organspenden

Wenn die BZgA-Studie verallgemeinert werden kann, dann hätten 40 Prozent der Menschen in Deutschland einen Organspendeausweis. Dies ergibt Millionen von potenziellen Spendern, auch wenn diese nicht alle in einem Jahr sterben. Also liegt das Problem nicht in der Anzahl von potenziellen, sondern von tatsächlichen Spenderinnen und Spendern. Nötig sind strukturelle Reformen, die es ermöglichen, potenzielle Spender auch in tatsächliche Spender umzusetzen. Wenn alle Menschen eine Entscheidung treffen müssen, wird dagegen nur die Anzahl der potenziellen Spender erhöht. 

Die Vorstellung, dass man einfach durch eine Änderung des „Defaults“ (also des Standardvorgehens, hier: das Ersetzen einer Zustimmungsregel durch eine Widerspruchsregel) gesellschaftliche Probleme lösen kann, kommt aus dem „Nudging“-Ansatz. Dieser Ansatz arbeitet mit Anreizen und vermutet die Ursachen von Problemen in der Unzulänglichkeit der Bürger (hier in deren Bequemlichkeit). Dass die wirklichen Ursachen ganz woanders liegen könnten, wird ausgeblendet. 

Solange man keine Reform wie in Spanien durchführt, wird es für die 8.400 Menschen auf der Warteliste wohl nicht genügend Organe geben, selbst wenn alle Menschen in Deutschland ab 16 Jahren eine klare Entscheidung pro oder contra Organspende treffen müssten. Um diesen Menschen zu helfen, müssten vielmehr strukturelle Änderungen vorgenommen werden, die teuer sind – und weit weniger populär.

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Prof. Dr. Thomas K. Bauer (RWI), Tel.: (0201) 8149-264

Sabine Weiler (Kommunikation RWI), Tel.: 0201/ 8149-213, sabine.weiler@rwi-essen.de


Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.

 

Weiterführende Literatur: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro.

 

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