Pisa-Schock: Nur die Spitze des bildungspolitischen Eisbergs

Als ob dieses Jahr nicht schon genug schlechte Nachrichten mit sich gebracht hätte, erfasste Deutschland im Dezember ein weiterer Schock: Die neuesten Ergebnisse der PISA-Studie der OECD. Demnach haben die Schülerinnen und Schüler in Deutschland im Jahr 2022 noch schlechter abgeschnitten als diejenigen in der ersten PISA-Studie im Jahr 2001. Zur Erinnerung: Damals lagen die Ergebnisse der Fünfzehnjährigen unter dem OECD-Durchschnitt, was den ersten PISA-Schock auslöste. Entsprechend titelte tagesschau.de „Neue PISA-Studie: Deutsche Schüler schneiden so schlecht ab wie nie“. Die der Veröffentlichung nun folgenden Interpretationen und Verbesserungsvorschläge  – bis hin zu Forderungen, aus der PISA-Studie auszusteigen, wie sie beispielsweise bei deutschlandfunk.de geäußert wurde – folgen weitgehend den Mustern, die wir bereits aus früheren Jahren kennen.

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Im Unterschied zu früheren Berichterstattungen zu den Ergebnissen der PISA-Studie ist das Medienecho zur neuesten PISA-Studie zumindest aus statistischer Sicht durchaus differenzierter. Während früher insbesondere Ländervergleiche im Zentrum der Berichterstattung standen, die allerdings auf Basis der PISA-Daten äußerst fragwürdig sind, konzentrieren sich die derzeitigen Meldungen überwiegend auf die zeitliche Entwicklung der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Und dabei wurde zumeist richtigerweise auf die sich veränderte Struktur der Schülerschaft hingewiesen, die sich durch die erhebliche Zuwanderung nach Deutschland ergibt (siehe dazu auch unsere Unstatistik von Dezember 2013). Auch wurde darüber berichtet, dass im Rahmen der PISA-Studie nur ein eingeschränkter Teil der in der Schule vermittelten Kompetenzen (Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften) erfasst wird und es – zumindest im Ländervergleich – Probleme bei der Stichprobenziehung gibt.

Zugang der Bildungsforschung zu deutschen Bildungsdaten ist stark eingeschränkt 

Zur Unstatistik wird diese Berichtserstattung nicht aufgrund fehlerhafter Interpretationen der Ergebnisse der PISA-Studie oder dem nun wieder entfachten Aufschrei nach bildungspolitischen Maßnahmen. Zur Unstatistik wird die Berichterstattung, weil in diesem Zusammenhang über einen relevanten Aspekt nicht berichtet wird: die mangelnde Verfügbarkeit von Daten für die Bildungsforschung, die nicht zuletzt vom Verein für Socialpolitikkürzlich kritisiert wurde. Ein Beispiel: An allen öffentlichen Schulen Deutschlands werden umfangreiche Schülerindividualdaten im Rahmen administrativer Prozesse erhoben. Zudem werden zahlreiche, teilweise deutschlandweit einheitliche Kompetenztests in verschiedenen Jahrgangsstufen durchgeführt. Mit derartigen Daten ließen sich Rückschlüsse auf Lern- und Kompetenzdefizite von Schülerinnen und Schülern ziehen und besonders unterstützungsbedürftige Schulen identifizieren.

Obwohl es weitgehend unstrittig ist, dass empirische Evidenz zur Wirksamkeit bildungspolitischer Maßnahmen notwendig ist, um das Bildungssystem zu verbessern, ist der Zugang der Wissenschaft zu diesen Daten meist versperrt oder mit hohen Hürden verbunden. Man gewinnt so den Eindruck, dass bildungspolitischen Akteure an aussagekräftigen wissenschaftlichen Evaluationen ihrer Maßnahmen nicht interessiert sind – das Ergebnis könnte ja sein, dass die mit viel Aufwand aufgesetzten Programme keine Wirkung zeigen. Warum sonst muss das Einverständnis der Kultusministerkonferenz (KMK) eingeholt werden, wenn man Vergleiche zwischen Bundesländern durchführen möchte? Vor diesem Hintergrund ist auch die Forderung, an der PISA-Studie nicht mehr teilzunehmen, nicht wirklich hilfreich. Erkenntnisse für eine bessere Bildungspolitik kann man nur über einen Vergleich verschiedener Bildungssysteme oder bildungspolitischer Maßnahmen gewinnen. Die bekannten Mängel der PISA-Studie kann man mit geeigneten statistischen Methoden und einer der Qualität der Daten entsprechenden vorsichtigen Interpretation der Ergebnisse weitgehend in den Griff bekommen. 

Bildungsverlaufsregister könnte wirksamere Bildungspolitik ermöglichen

Bessere Bildungspolitik braucht eine bessere Evidenz zur Wirksamkeit bildungspolitischer Maßnahmen (siehe hierzu unter anderem die Initiative der Leopoldina zur evidenzbasierten Politik). Und diese hängt wiederum von besseren Daten und einem verbesserten Zugang zu diesen Daten ab. So fordert der Verein für Socialpolitik beispielsweise den Aufbau eines Bildungsverlaufsregisters über alle Stufen der formalen Bildung. Andere europäische Länder zeigen, dass der Aufbau eines solchen Registers aus existierenden Daten möglich ist und der Zugang zu diesem Register für die Wissenschaft datenschutzkonform realisiert werden kann. Es wird Zeit, dass Deutschland in Sachen Bildungsforschung mit anderen Ländern aufschließt und der Wissenschaft ermöglicht, wichtige Impulse für die Verbesserung des deutschen Bildungssystems zu geben. 

Das Unstatistik-Team wünscht schöne Feiertage.

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Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.

 

Weiterführende Literatur: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro.

 

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