„Schock-Zahlen: Das Vermögen deutscher Haushalte im europäischen Vergleich dramatisch niedrig“ und „Arme Schlucker Europas? EU-Vergleich zeigt, wie wenig Vermögen die Deutschen haben“ titelten die „Bild“-Zeitung und der „Focus“ Anfang dieses Jahres. Nicht wenige dürften überrascht sein, titelte der „Focus“ doch noch im Januar 2022 „Rekordwert von fast 7,7 Billionen Euro: Deutsche so reich wie nie zuvor“.
Grundlage dieser Beiträge ist ein von der Europäischen Zentralbank (EZB) vorgenommener Vergleich der Vermögensbestände und der Vermögensverteilung von Haushalten in der Europäischen Union. Demnach rangierten deutsche Haushalte unter 20 europäischen Ländern mit einem Medianvermögen von 106.000 Euro im Jahr 2023 nur auf Rang 15, knapp vor den Haushalten in Griechenland mit einem Medianvermögen von 97.000 Euro und hinter slowakischen Haushalten mit einem Medianvermögen von 116.000 Euro. Das Medianvermögen bezeichnet die Höhe des Vermögens, bei dem die Hälfte der Menschen im jeweiligen Land darunter und die andere Hälfte darüber liegt. Verwendet man statt dem Medianvermögen das arithmetische Mittel des Vermögens (das im allgemeinen Sprachgebrauch auch gerne als Durchschnittsvermögen bezeichnet wird), liegt Deutschland mit 413.000 Euro auf Rang 9, knapp vor den Niederlanden mit 407.000 Euro und hinter Spanien mit 420.000 Euro. Dass Deutschland beim Durchschnittsvermögen besser abschneidet als beim Medianvermögen, liegt an der vergleichsweisen hohen Vermögensungleichheit in Deutschland, da es in Deutschland viele hohe Vermögen gibt.
Bei solchen internationalen Vermögensvergleichen stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Vermögensarten berücksichtigt und wie diese bewertet wurden. Geht es nur um das relativ einfach zu erfassende und zu bewertende Geldvermögen, also Aktien, festverzinsliche Wertpapiere, Bankeinlagen, Bargeld und Ansprüche gegenüber Versicherungen? Oder werden auch andere, insbesondere schwer zu bewertende Vermögensgegenstände berücksichtigt, wie Immobilien, Betriebsvermögen, Kraftfahrzeuge oder Schmuck? Die Meldung des „Focus“ aus dem Jahr 2022 betrachtet jedenfalls nur die Gesamtsumme des in Deutschland von privaten Haushalten gehaltenen Geldvermögens.
Neueste Studie der EZB ist nur sehr eingeschränkt für internationale Vergleiche geeignet
In ihrer neuesten Studie versucht sich die EZB hingegen an der Schätzung der Verteilung der Vermögen unter Verwendung eines vergleichsweise weiten Vermögensbegriffs (so werden beispielsweise auch Immobilien- und Betriebsvermögen berücksichtigt). Dies ist nur durch die Kombination verschiedener Datensätze und mehr oder weniger komplizierte Schätzverfahren möglich, die zwangsläufig auf einer Reihe von Annahmen beruhen. Nicht zuletzt aus diesem Grund weist die EZB explizit darauf hin, dass die Ergebnisse mit einer höheren Unsicherheit behaftet sind als andere Vermögensstatistiken.
Insbesondere ist diese neueste Studie der EZB deswegen nur sehr eingeschränkt für internationale Vergleiche geeignet, da sie Rentenversicherungsansprüche nicht berücksichtigt, die durch Sozialbeiträge der erwerbstätigen Haushalte im Rahmen von Umlagesystemen finanziert werden. Daher wird das Medianeinkommen für Deutschland im Vergleich zu Ländern mit einem kapitalgedeckten Rentenversicherungssystem zu niedrig ausgewiesen. Würde man stattdessen die mit den Rentenbeiträgen erworbenen zukünftigen Rentenansprüche berücksichtigen, würde Deutschland im europäischen Vermögensranking sehr wahrscheinlich einen besseren Platz erreichen. Diese Rentenversicherungsansprüche lassen sich nur sehr schwer berechnen, insbesondere im internationalen Kontext.
Vermögensungleichheit in Deutschland wird tendenziell überschätzt
Wir versuchen hier dennoch einmal eine sehr grobe und mit hoher Unsicherheit behaftete Abschätzung. Im Jahr 2015 summierten sich die gesamten Rentenanwartschaften aus der gesetzlichen Rentenversicherung und der Altersversorgung von Beamten laut Schätzung des Statistischen Bundesamts in Deutschland auf insgesamt ca. 8.000 Milliarden Euro. Bei 41 Millionen Haushalten in Deutschland ergeben sich daraus Rentenversicherungsansprüche von rund 195.000 Euro je Haushalt. Fast ein Drittel des durchschnittlichen deutschen Haushaltsvermögens fehlt also in der Rechnung der EZB. Wie würde Deutschland unter Berücksichtigung der Rentenanwartschaften im europäischen Vergleich abschneiden? Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man ähnliche Berechnungen für alle Länder durchführen würde, da nahezu alle Länder eine Mischung zwischen einem Umlage- und einem Kapitaldeckungsverfahren verfolgen, wobei diese Verfahren sehr unterschiedlich gewichtet werden.
Nicht zuletzt führt die fehlende Berücksichtigung der zukünftigen Rentenansprüche dazu, dass die von der EZB ausgewiesene Vermögensungleichheit in Deutschland tendenziell überschätzt wird. So werden beispielsweise viele nicht versicherungspflichtige Selbständige für ihre Rentenvorsorge hohe Geld- oder auch Immobilienvermögen halten, die im Unterschied zu den Rentenansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung von der EZB erfasst werden.
Die von der EZB vorgelegte Studie ist insbesondere aufgrund ihrer innovativen Methodik sehr interessant und liefert neue und politisch relevante Einblicke, vor allem wenn man die zeitliche Entwicklung der Vermögensverteilung innerhalb eines Landes betrachtet. Für einen internationalen Vergleich der Vermögensverteilung ist sie jedoch (noch) nur sehr bedingt geeignet. Ob „Focus“ und „Bild“-Zeitung etwas zurückhaltender mit ihren Schlagzeilen wären, wenn die EZB diese Einschränkungen noch klarer kommunizieren würde, ist zwar nicht garantiert. Trotzdem zeigt dieses Beispiel wieder einmal, dass Bereitsteller von Daten und Statistiken deren Risiken und Nebenwirkungen gar nicht deutlich genug herausstellen können, um Fehlinterpretationen vorzubeugen.
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Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen. Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und unter dem Twitter-Account @unstatistik. Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-charta.de abrufbar.
Weiterführende Literatur: „Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich – Über Risiken und Nebenwirkungen der Unstatistik“, das zweite Unstatistik-Buch (ISBN 9783593516080), erhältlich im Buchhandel zum Preis von 22 Euro.
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